Sonntag, 19. Juli 2015
Zeitsprung
Um zu verstehen, wie es eigentlich begann, muss ich viel weiter zurück.

Folgt man den einschlägigen Ratgebern, der einprägsamen Wirkung von Werbung oder einfach nur dem Rat des Vaters, doch endlich mal aus seinem Talent etwas zu machen, landet man ziemlich schnell bei der Einsicht, dass alle, ausnahmslos, Recht haben und man tatsächlich etwas mit seinen Gaben anfangen sollte. Meine einzige Stärke war von Beginn an das Schreiben von Texten. Und obwohl ich mein Deutschabitur nur mit sechs Punkten geschafft, meine Tutorin von meiner Unzurechnungsfähgigkeit überzeugt und ich mit fehlendem Wissen in allen Bereichen geglänzt habe, steh ich nun an diesem Punkt und bin im Grunde nicht überzeugt es zu schaffen.
Dabei war es immer mein Ziel ein Buch von mir in meinem Schrank stehen zu haben. Direkt neben Dostojewski, Sartre, Anatôle France, Arto Paasilinna und anderen nicht alphabetisch angeordneten Autoren. Mittendrin mein Buch, mein Einband, mein Vorwort, meine Geschichte. Ich hätte mich gut gefühlt, sehr gut sogar.
„Gut schreiben wirst Du erst, wenn dir Schlechtes widerfährt“ sagte mein ehemals bester Freund in der Schule. Es war so ziemlich der einzige Satz in seinem Leben, der so etwas wie Tiefgründigkeit besaß und erst recht der einzige, der bei ihm keinen Sinn ergab. Groß gewachsen und kräftig gebaut, verstand er es, Bälle mit dem Fuß Richtung Himmel zu treten, Gewichte hochzuheben und kilometerweit zu rennen, aber von Büchern oder vom Schreiben hatte er keinen Plan. Und doch stammte der Satz von ihm. Ich konnte mir selbst nie ausmalen, was er damit meinte. Wie konnte er wissen, was er da sagte? Ich hab ihn nie unglücklich erlebt. Er war nie traurig oder deprimiert. Er hatte nicht einmal beim Zwiebel schälen geweint. Richtig wütend war er im Grunde auch nicht, es sei denn ich war doch mal sportlicher als er, was aber eigentlich nie vorkam. Seine Eltern waren nicht reich, aber definitiv nicht arm und als einziges Kind genoss er so oder so Privilegien. Er bekam tolle Geschenke, einfach so. Seine erste LEGO-Burg war dreimal so groß wie meine. Sein erster Computer viermal schneller. Ich spielte NES, er gab mit seinem Super Nintendo an. Irgendwie wirkte selbst seine Ausgabe von der Mickey Maus besser.
War ich neidisch auf ihn und seinen Besitz? Natürlich war ich neidisch. Bei Freunden ist man stets etwas neidischer als bei Fremden. Sie sind einem halt näher, man weiß mehr von ihnen und man kann eher einschätzen, was sie verdient haben und was nicht. Dennoch waren wir Freunde. Nicht zuletzt, weil ich dadurch in den Genuss der neuesten Spiele kam. Stephan teilte widerwillig, vor allem seine Süßigkeiten und trotzdem mochte ich ihn. Viele hätten das nicht sagen können, denn selbst nach fünf Jahren auf dem Gymnasium, war ich sein einziger Freund.
Wir waren das Traumpaar in der Schule. Beide Außenseiter, beide verklemmt. Er das Sportass, ich das Allroundtalent. Irgendwie eine seltsame Kombination, aber sie funktionierte. Beim 60 Meter-Lauf zog er mich im Grunde hinter sich her, beim Geräteturnen beeindruckte er mich mit grazilen Einlagen und dies alles motivierte mich so sehr, dass ich im Sportunterricht immer eine Note besser war, als mir zustand. Als unausgesprochene Gegenleistung durfte er beim mir während der Klassenarbeiten spicken und Hausaufgaben abschreiben. Ich sagte ihm die Antworten in Französisch und Englisch vor und übernahm jeden gemeinsamen Vortrag fast alleine. Als ich später dem Begriff „Arbeitsteilung“ begegnete, musste ich unweigerlich lachen. Stephan und ich hatten ihn perfektioniert.
Aller Hilfe zum Trotz, schaffte Stephan das Abitur erst beim zweiten Anlauf. Mit meinem Abschluss endete unser Kontakt. Ich hatte nichts mehr von ihm gehört und irgendwie war es auch egal. Ich hatte mein Studium begonnen und neue Freundschaften geknüpft. Die Zeiten als Außenseiter waren vorbei und ich hatte kein Interesse sie erneut heraufzubeschwören. Mit dem Studium der Germanistik begann eine neue Zeit. Ich las viele Bücher, ich schrieb viel, was also sollte dem Studium entgegenstehen? Ich war dafür prädestiniert und mein Ziel, ein Buch zu schreiben, rückte näher.
Ich hatte mit 12 Jahren angefangen zu schreiben. Kleine Texte, schlechte Gedichte, Kolumnen, Tagebucheinträge und so weiter. Daraus ein Buch zu machen, kam am Anfang nicht in Frage, da es eher eine Bewältigung meiner pubertären Gemütsschwankungen war. Aber je mehr Abstand man zu sich und seinen Erfahrungen gewinnt, desto besser ist man in der Lage, sie objektiv zu betrachten und tatsächlich etwas aus ihnen zu lernen. Abstand mehrt Distanz, das war schon immer so.
Stephan hatte nicht ganz Unrecht. Wenn es einem schlecht geht, kann man gut schreiben. Man schreibt aber eher quantitativ gut und nicht qualitativ. Will man richtig gut schreiben, braucht man eine Idee und keinen Kummer. Man sollte für andere interessant schreiben und nicht sein Selbstmitleid glorifizieren. Schreiben war einfach, wenn es einem schlecht geht, so wie es einfach ist, im Bett liegen zu bleiben, wenn man müde ist. Es ist das natürlichste der Welt, Dinge zu verarbeiten. Aber was machte es zu etwas Besonderem? Ich hatte und habe keine Ahnung. Ich hatte mein Ziel und jetzt habe ich nur noch den Wunsch, es zu erreichen.

... link (0 Kommentare)   ... comment