Sonntag, 9. August 2015
Einprägsam
Früh aufstehen, aus dem Bett quälen, das Bad meiden und direkt zum Frühstückstisch gehen, wo die gesamte Familie bereits freudestrahlend wartet und im Chor ein lieblich säuselndes „Guten Morgen“ anstimmt. Ein Tag kann nicht schöner beginnen, als mit der Lüge schlechthin, dass alles gut sei, besonders der Morgen.
Ich aß damals aus reiner Routine meine Leberwurstschnitte, biss kurz in den Apfel, trank meinen Kakao und stürmte aus der Tür Richtung nächster Zwangsvereinigung: der Schule. Sie war fünf Minuten zu Fuß entfernt, aber ich nahm dennoch mein Fahrrad.
Unsere Schule war ein zweigeteilter Steinblock, schnell zusammengeschustert und billig mehrfach in den Boden gestampft. So wie die Schule, sah unser Wohnblock, unser Nachbarblock und so ziemlich jeder Block in unserer Stadt aus. Wahrscheinlich war der Osten tatsächlich berühmt hierfür.
Am Montag war meine erste Unterrichtsstunde Deutsch bei Herrn Heinrich, dem mit Abstand schlechtesten Lehrer unserer Schule. Er war extrem schmal, hatte einen langen, verfilzten Bart und strohiges, ungekämmtes Haar. Gleich seiner Erscheinung war sein Unterricht trocken und völlig ungepflegt. Er erzählte schweinische Witze und lachte heißer über den Auftritt unserer Schönheit mit ihrem engen Top und der leisen Vermutung von Brüsten darunter. Das Beste war jedoch, dass uns Zwölfjährigen absolut nichts beibrachte.
Ich erinnere mich noch gut an eine typische Arbeit von ihm. Wir sollten die Literaturliste abklappern und danach gab es eine Frage-Antwort-Spiel mittels Kurztest, damit auch jeder wusste, dass keiner ein Buch gelesen hatte. Der Test zu Robinson Crusoe von Willem Dafoe war besonders einprägsam. Ich hatte keine einzige Seite des Buches gelesen und gluckste kurz, als Herr Heinrich sagte, wir sollen Zettel und Stift herausholen. Ich weiß noch, wie es stark muffelte, als er vor Stephans und meinen Tisch trat und uns die Arbeitskopie hinlegte. Ich musste jedes mal niesen. Und jedes mal die gleiche Frage von Heinrich: Ob ich krank sei und lieber nach Hause wolle, fragte er. Ich schaute ihn dann stets nur naserümpfend und Luftanhaltent an und stammelte „Nein, ich hatte nur etwas in der Nase“. Im Grunde war es immer so; er stank und merkte es nicht, nein, er lehnte sich einem sogar extra weit entgegen nur um eine persönliche Basis herzustellen, die keiner von uns mit ihm wollte.
Ich weiß noch, wie er verschwand und ich nur kurz zu Stephan schaute, der nicht einmal mehr grinste. Als ich auf meinen Zettel sah, verging auch mir das Lächeln. Das war mit Abstand der einfachste Test der Welt und ich hatte dennoch keinen Plan, da ich das Buch nicht gelesen hatte.
Grob zusammengefasst waren die Fragen wie folgt:
Aufgabe 1: Charakterisieren sie Robinson Crusoe! Nennen Sie drei Eigenschaften und belegen sie es mit einem Beispiel.
Gut, auch ich hatte einen Fernseher und hab die Geschichte irgendwann mal gesehen. Crusoe war ein verlauster Inselbewohner. Abgemagert und dreckig. Völlig verzweifelt gestrandet im Niemandsland und im Grunde allein nicht überlebensfähig. Irgendwie so konnte konnte ich mich an die Gestalt erinnern. Nur waren dies denkbar schlechte Eigenschaften und ich hatte nicht einmal ein Beispiel parat. Aber bei Aufgabe 1 von 15 hängen zu bleiben war schon bitter, also begann ich zu schreiben: „Robinson Crusoe war ein mutiger Mann, der trotz der Strandung auf der Insel nicht aufgab. Er war groß und schmal und dennoch kräftig. Zu Freitag war er immer lieb und zuvorkommend“.
Seien wir doch mal ehrlich: ich war zwölf, hatte keinen Plan und war überhaupt völlig desinteressiert. Dafür war es aber eine gute Antwort. Dachte ich zumindest.
Ich widmete mich Aufgabe 2: „Wie verläuft die Begegnung von Robinson Crusoe und Freitag und inwiefern helfen/ brauchen sie einander?“ Was bitte?
Wenn ich so darüber nachdenke, ich hatte ne verdammt lustige Kindheit.

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Sonntag, 19. Juli 2015
Zeitsprung
Um zu verstehen, wie es eigentlich begann, muss ich viel weiter zurück.

Folgt man den einschlägigen Ratgebern, der einprägsamen Wirkung von Werbung oder einfach nur dem Rat des Vaters, doch endlich mal aus seinem Talent etwas zu machen, landet man ziemlich schnell bei der Einsicht, dass alle, ausnahmslos, Recht haben und man tatsächlich etwas mit seinen Gaben anfangen sollte. Meine einzige Stärke war von Beginn an das Schreiben von Texten. Und obwohl ich mein Deutschabitur nur mit sechs Punkten geschafft, meine Tutorin von meiner Unzurechnungsfähgigkeit überzeugt und ich mit fehlendem Wissen in allen Bereichen geglänzt habe, steh ich nun an diesem Punkt und bin im Grunde nicht überzeugt es zu schaffen.
Dabei war es immer mein Ziel ein Buch von mir in meinem Schrank stehen zu haben. Direkt neben Dostojewski, Sartre, Anatôle France, Arto Paasilinna und anderen nicht alphabetisch angeordneten Autoren. Mittendrin mein Buch, mein Einband, mein Vorwort, meine Geschichte. Ich hätte mich gut gefühlt, sehr gut sogar.
„Gut schreiben wirst Du erst, wenn dir Schlechtes widerfährt“ sagte mein ehemals bester Freund in der Schule. Es war so ziemlich der einzige Satz in seinem Leben, der so etwas wie Tiefgründigkeit besaß und erst recht der einzige, der bei ihm keinen Sinn ergab. Groß gewachsen und kräftig gebaut, verstand er es, Bälle mit dem Fuß Richtung Himmel zu treten, Gewichte hochzuheben und kilometerweit zu rennen, aber von Büchern oder vom Schreiben hatte er keinen Plan. Und doch stammte der Satz von ihm. Ich konnte mir selbst nie ausmalen, was er damit meinte. Wie konnte er wissen, was er da sagte? Ich hab ihn nie unglücklich erlebt. Er war nie traurig oder deprimiert. Er hatte nicht einmal beim Zwiebel schälen geweint. Richtig wütend war er im Grunde auch nicht, es sei denn ich war doch mal sportlicher als er, was aber eigentlich nie vorkam. Seine Eltern waren nicht reich, aber definitiv nicht arm und als einziges Kind genoss er so oder so Privilegien. Er bekam tolle Geschenke, einfach so. Seine erste LEGO-Burg war dreimal so groß wie meine. Sein erster Computer viermal schneller. Ich spielte NES, er gab mit seinem Super Nintendo an. Irgendwie wirkte selbst seine Ausgabe von der Mickey Maus besser.
War ich neidisch auf ihn und seinen Besitz? Natürlich war ich neidisch. Bei Freunden ist man stets etwas neidischer als bei Fremden. Sie sind einem halt näher, man weiß mehr von ihnen und man kann eher einschätzen, was sie verdient haben und was nicht. Dennoch waren wir Freunde. Nicht zuletzt, weil ich dadurch in den Genuss der neuesten Spiele kam. Stephan teilte widerwillig, vor allem seine Süßigkeiten und trotzdem mochte ich ihn. Viele hätten das nicht sagen können, denn selbst nach fünf Jahren auf dem Gymnasium, war ich sein einziger Freund.
Wir waren das Traumpaar in der Schule. Beide Außenseiter, beide verklemmt. Er das Sportass, ich das Allroundtalent. Irgendwie eine seltsame Kombination, aber sie funktionierte. Beim 60 Meter-Lauf zog er mich im Grunde hinter sich her, beim Geräteturnen beeindruckte er mich mit grazilen Einlagen und dies alles motivierte mich so sehr, dass ich im Sportunterricht immer eine Note besser war, als mir zustand. Als unausgesprochene Gegenleistung durfte er beim mir während der Klassenarbeiten spicken und Hausaufgaben abschreiben. Ich sagte ihm die Antworten in Französisch und Englisch vor und übernahm jeden gemeinsamen Vortrag fast alleine. Als ich später dem Begriff „Arbeitsteilung“ begegnete, musste ich unweigerlich lachen. Stephan und ich hatten ihn perfektioniert.
Aller Hilfe zum Trotz, schaffte Stephan das Abitur erst beim zweiten Anlauf. Mit meinem Abschluss endete unser Kontakt. Ich hatte nichts mehr von ihm gehört und irgendwie war es auch egal. Ich hatte mein Studium begonnen und neue Freundschaften geknüpft. Die Zeiten als Außenseiter waren vorbei und ich hatte kein Interesse sie erneut heraufzubeschwören. Mit dem Studium der Germanistik begann eine neue Zeit. Ich las viele Bücher, ich schrieb viel, was also sollte dem Studium entgegenstehen? Ich war dafür prädestiniert und mein Ziel, ein Buch zu schreiben, rückte näher.
Ich hatte mit 12 Jahren angefangen zu schreiben. Kleine Texte, schlechte Gedichte, Kolumnen, Tagebucheinträge und so weiter. Daraus ein Buch zu machen, kam am Anfang nicht in Frage, da es eher eine Bewältigung meiner pubertären Gemütsschwankungen war. Aber je mehr Abstand man zu sich und seinen Erfahrungen gewinnt, desto besser ist man in der Lage, sie objektiv zu betrachten und tatsächlich etwas aus ihnen zu lernen. Abstand mehrt Distanz, das war schon immer so.
Stephan hatte nicht ganz Unrecht. Wenn es einem schlecht geht, kann man gut schreiben. Man schreibt aber eher quantitativ gut und nicht qualitativ. Will man richtig gut schreiben, braucht man eine Idee und keinen Kummer. Man sollte für andere interessant schreiben und nicht sein Selbstmitleid glorifizieren. Schreiben war einfach, wenn es einem schlecht geht, so wie es einfach ist, im Bett liegen zu bleiben, wenn man müde ist. Es ist das natürlichste der Welt, Dinge zu verarbeiten. Aber was machte es zu etwas Besonderem? Ich hatte und habe keine Ahnung. Ich hatte mein Ziel und jetzt habe ich nur noch den Wunsch, es zu erreichen.

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Donnerstag, 16. Juli 2015
Blindheit
Natürlich wollte ich über die Konsequenzen jener Entscheidungen nachdenken und natürlich wusste ich, dass sie möglicherweise sehr schmerzvoll werden. Aber ich kam nicht umhin zu glauben, dass ein anderer Weg viel schmerzvoller wäre. Ich hatte mir oft gewünscht, die Welt in mehr als nur schwarz und weiß zu unterscheiden und entsprechend mehr als nur eine Lösung zu entdecken. Aber mein Kopf wollte mir immer nur zwei Möglichkeiten offerieren: ja oder nein.
In Partnerschaften entschied es sich oft, dass die Person, die sich von mir trennte, sich eben nur auf dieser Ebene von mir trennte. Sie wollte sehr wohl den Kontakt, den ich aber nicht anbieten konnte. Anfangs war es bloße Sturheit: warum sollte ich denn noch Kontakt mit jemandem wollen, der mich nicht liebt. Später war es die Erkenntnis, dass die Ebene, die diese Personen wollten nicht die war, die ich wollte. Und viel später erkannte ich, dass diese Personen einfach nicht den Einfluss hatten, mich aus meinem Trott herauszuholen. Jemand sagte mal, ich müsse jemanden treffen, der mich so richtig flasht, dann würde ich all meine negativen Emotionen auch nach einer Trennung vergraben. Und wenn dann nur genug Zeit vergangen wäre, hätte man sich neu kennengelernt und wäre ein zweites mal geflasht worden. Oder aber beide sind von Anfang an füreinander bestimmt. Jemand anderes glaubte, dass es einfach nicht die richtige Zeit sei, aber wann wäre diese je gewesen? Wir sind keine Spatzen und finden nicht den Partner fürs Leben mit dem ersten Versuch. Über die höhere Lebenserwartung hinweg in einer Person alles zu sehen, scheint auch etwas merkwürdig. Wir müssen uns selbst definieren und oft machen wir das über das Probieren. Oder anders ausgedrückt: sich selber erkennt man nur durch die Augen anderer.
Ich war gut darin Leute zu beobachten, aber nach Trennungen, auch auf freundschaftlicher Ebene, war mein Verstand wie Brei. Eher fing ich an über mögliche Treffen mit dieser Person nachzudenken und den Gesprächsverlauf zu erahnen. Wenn man emotional nicht vorbelastet ist, reicht es manchmal die andere Person gut zu kennen und schon ist die Vorhersage, was sie sagen würde oder wie sie denkt keine Gabe. Leider ist das große Problem bei einer Vorbelastung, dass wir für die anderen denken. Letztlich glauben wir alles zu wissen oder mit absoluter Sicherheit den weiteren Verlauf zu kennen.
Ein häufiger Gesprächsverlauf, den ich mir erdacht hatte war wie folgt: Die Person meldet sich nach einiger Zeit mit mir und bittet um ein Treffen. Dann teilt sie mir mit, dass sie mich mich ja immer noch mag und ob man nicht befreundet sein könnte. Ich teile dieser Person in dem Moment mit, dass ich dieses Gefühl nicht erwidere und dementsprechend keinen Kontakt wünsche. Die Realität sieht so aus: Die Person meldet sich und fragt, wie man das mit den Sachen macht, die noch bei dem jeweils anderen sind.
Oder aber ich wünsche mir inständig, die Person kommt auf mich zu und sagt, sie will mich zurück. Selbst dann sage ich von oben herab „Es ist zu spät, Du hattest deine Entscheidung getroffen.“ Die Realität in dem Fall ist, dass sich die Person nie wieder meldet und man sich irgendwann begegnet aber nichts mehr zu sagen hat. Das schmerzt dann aber auch nicht mehr, es ist egal.
Würde jemand seine Gefühle erst mal wegpacken, sagen es sei noch nicht die richtige Zeit, würde ich ihn aus meinem Leben streichen und den Schmerz dessen akzeptieren.
Ich kenne die Gefühle anderer Menschen nicht, wenn sie mich betreffen und ich will sie auch nicht kennen. Aber das ist die Wut und der Frust, die aus mir sprechen. Wenn ich auch versuchen würde mich selbst zu beobachten, ich würde scheitern. Emotional betroffen zu sein, macht einen nahezu blind.

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